Der gewalttätigen Fußballrowdy-Szene des Landes fallen immer mehr Menschen zum Opfer. Politiker und Gewerkschaften nutzen die mächtigen Fanklubs als Prätorianer. Mit Sport hat das nur peripher zu tun.
Agustín Rodríguez starb vorige Woche mit 27 Jahren. Er endete mit gespaltenem Schädel im Rinnstein einer Avenida am Stadtrand von Buenos Aires. Es war Mittwoch, halb drei, ein glühend heißer Sommernachmittag. Der gelernte Koch, dessen sterbliche Überreste am Wochenende eingeäschert wurden, geht in die Statistik des argentinischen Fußballs ein: als Toter Nr. 258.
Die Männer, die ihn mit einer Eisenstange erschlugen, nennen sich Fans des „Club Atlético Nueva Chicago“ aus dem wenig beschaulichen Schlachthausviertel Mataderos. Auch Rodríguez war Chicago-Fan, aber von einer anderen Fraktion als seine Mörder. Er starb im Kampf um Macht und Geld. Mit Sport hat das nur peripher zu tun.
„Barras bravas“ (wilde Ränge) nennt man in Argentinien jene gewalttätigen Fangruppen, die sich in allen Klubs des bezahlten Fußballs breitgemacht haben. Als Preis für ihre Stimm- und Schlagkraft verlangen sie von den Klubchefs Gratistickets, Busfahrten zu Auswärtsspielen – aber auch Anteile an den Einnahmen. Die Barras bewirtschaften die Parkplätze, verkaufen im Stadion Getränke, Fanartikel und Rauschmittel aller Art, betreiben Klubrestaurants und Freibäder auf dem Vereinsgelände. Oft halten sie sogar schon bei Spielertransfers die Hand auf. Um diese Geldquellen bekriegen sich in den meisten Klubs, speziell in Buenos Aires, mehrere Fraktionen. Und das mit oft tödlichen Folgen.
Und mit immer weniger Skrupel: Stunden nach dem Tod von Rodríguez stürmte eine Gang aus mehr als dreißig Bewaffneten das Hospital des Schlachthausviertels. Mit Baseballschlägern und gezückten Pistolen drangen die Kumpane des Erschlagenen gar in den Kreißsaal vor, auf der Suche nach einem Führer der anderen, der verfeindeten Gruppe, der mit Stichwunden eingeliefert worden war. Die Meute fand ihn zum Glück nicht.
Die Videoaufnahmen aus dem Hospital flimmerten auf allen TV-Kanälen. Man sah Pfleger, Schwestern und Patienten vor dem Mob flüchten. Wieder einmal mussten die Argentinier machtlos miterleben, wie ungeniert die Horden ihre Mitmenschen terrorisieren. Und wie niemand etwas dagegen tat.
Sie haben freilich auch ausgezeichnete Verbindungen – das unterscheidet sie von europäischen Hooligans. Denn Barras Bravas prügeln nicht nur für die Präsidenten ihrer Fußballklubs, sie verrichten oft auch die Schmutzarbeit für Gewerkschafter und Politiker. Sie kleben Plakate auf oder feuern Kandidaten an, stören aber auch Veranstaltungen der Gegner massiv oder verhindern, dass kritische Zeitungen ausgeliefert werden.
Ideologie spielt keine übergeordnete Rolle – was zählt, ist Cash. Und Protektion: Hunderte Anzeigen gegen Barras verkümmern in den Schubladen der Behörden. Beweisstücke verschwinden, Videoaufnahmen werden jäh schwarz. Als Rafael di Zeo, Barras-Boss des Großklubs „Boca Juniors“, 2005 heiratete, waren Richter, Polizeichefs und der Sicherheitsminister der Provinz Buenos Aires unter den Gästen. Di Zeos Braut war Sekretärin des Ministers.
Vor der Fußball-WM in Südafrika 2010 organisierten enge Mitarbeiter des mittlerweile verstorbeben Expräsidenten Néstor Kirchner (Amtszeit 2003–2007) Flugtickets und Hotels für die „Vereinigten Fußballfans“; Südafrikas Behörden verweigerten aber 15 der von Kirchner-Getreuen hofierten Hordenführern die Einreise – die meisten davon waren nämlich verurteilte Mörder und Räuber.
Ariel Pugliese durfte nach Südafrika einreisen, er war ja nie verurteilt worden. Als er die Barras von Nueva Chicago leitete, wurde vor dem Stadion ein gegnerischer Fan durch Kopfschüsse getötet. Nueva Chicago musste darauf in die zweite Liga absteigen, aber der Boss kam nicht ins Gefängnis, sondern ins nationale Statistikamt: Er gehörte zu jenen 100 speziellen Fachkräften, die eingestellt wurden, nachdem die Regierung Kirchner das einst unabhängige Institut 2007 an die Kandare nahm.
Kurz nach Arbeitsantritt zerstörten Pugliese und seine Leute mehrere Büros, bedrohten „unflexible“ Mitarbeiter. Seither publiziert das Amt eine offizielle Inflationsrate von unter zehn Prozent, weit niedriger, als die 25 bis 30 Prozent, die unabhängige Ökonomen errechnen. Angesichts der offenbar staatstragenden Bedeutung der Barras von Nueva Chicago darf man auf die Ermittlungsergebnisse über den Tod von Agustín Rodríguez gespannt sein. Bisher gab es keine Festnahmen.
Rodríguez ist freilich schon nicht mehr der letzte Fußballtote. Am Wochenende starb „River-Plate“-Anhänger Martín „El Turco“ Stambuli (33) durch Genickschuss. Seine Leiche lag im Straßengraben.
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