Joe Hart, sagt Gianluigi Buffon ohne einen Anflug von Ironie, "kann einmal der beste Torwart der Welt werden". Wie gut der Engländer Hart bereits ist, wird der viermalige Welttorhüter aus Italien am Sonntag sehen - und er könnte überrascht werden. Denn im EM-Viertelfinale in Kiew (20.45 Uhr/ARD), sagt Hart, würde er es zur Not auch mit "spaghetti legs" versuchen.
Mit besagten "Wackel-Beinen" raubte Liverpools Torwart Bruce Grobbelaar beim Elfmeterschießen im Landesmeistercup-Endspiel 1984 den Spielern der AS Rom den letzten Nerv - und Englands Nationalkeeper würde die Geschichte 28 Jahre später gerne wiederholen. "Ich tue alles, was die Regeln erlauben", sagt der 25-Jährige vor dem Duell mit der Squadra Azzurra.
Das Problem ist nur: Die Regeln erschweren eine Kopie, das weiß keiner so gut wie Hart. Schon einmal, im Halbfinale der U21-EM 2009 gegen Schweden, hat er sich als "Spaghetti-Mann" versucht. Zwar versagten Schwedens Marcus Berg damals tatsächlich gegen Hart die Nerven, doch Hart sah wegen "unsportlichen Verhaltens" Gelb, war im Finale gegen Deutschland gesperrt - und die "jungen Löwen" verloren 0:4. Trotzdem war Hart der englische Held des Turniers. Wegen der Spaghetti-Beine, und weil er selbst einen Elfmeter verwandelt hatte.
Auch das würde er jederzeit wieder tun, sagt Hart mit Blick auf das Duell mit Italien. "Es würde mir nichts ausmachen", betont er. Und diese Einstellung verschafft ihm bei den Italienern höchsten Respekt. Buffon, selbst über Jahre einer der Besten seines Fachs, lobt Harts "Charisma". Ein Elfmeterschießen am Sonntag gelte es zu vermeiden, "das wäre gefährlich fürs Herz", sagt er.
Hart, Profi von Meister Manchester City, scheint die fast sprichwörtlichen Torhüter-Probleme englischer Nationalmannschaften gelöst zu haben. "Er ist ohne Zweifel der beste englische Torhüter", lobt ihn Bert Trautmann, die deutsche Torwartlegende, die einst im City-Trikot glänzte: "Er ist sicher und extrem gründlich, ein sehr talentierter Torwart, der auch auf internationaler Ebene Leistung bringt."
England und seine Torhüter - das war über Jahrzehnte eine sehr unglückliche Beziehung. Die Fehler von Peter "Katze" Bonetti kosteten den Titelverteidiger bei der WM 1970 gegen Deutschland den Halbfinal-Einzug. 1990 patzte der große Peter Shilton gleich zwei Mal schwer. David Seaman im WM-Viertelfinale 2002 gegen Brasilien, Paul "Mrs." Robinson und Scott Carson in der Qualifikation für die EM 2008 jeweils gegen Kroatien, "Flutschfinger" Robert Green bei der WM 2010 gegen die USA und immer wieder David "Calamity" (dt.: Unglück) James - eine unendliche Geschichte.
Kein Wunder, dass bei den großen Klubs zuletzt über Jahre ausländische Keeper im Tor standen. Jens Lehmann, Manuel Almunia oder Wojciech Szczesny bei Arsenal, Petr Cech in Chelsea, Peter Schmeichel, Edwin van der Sar und jetzt David de Gea bei ManUnited, Jerzy Dudek und Pepe Reina in Liverpool. Noch vor wenigen Jahren waren die Engländer so verzweifelt, dass sie Schmeichels Sohn Kasper einbürgern wollten. Hart musste sich bei City erst gegen den Iren Shay Given durchsetzen, wurde in den vergangenen Spielzeiten dann aber jeweils zum besten Torwart der Premier League gewählt. "Er ist die selbstverständliche Wahl als Nummer eins", sagt Seaman.
Bei der EM war Hart in der Vorrunde statistisch der beste Torwart. Von den 17 Schüssen, die auf sein Tor kamen, parierte er 14 (82 Prozent) - nur Given zeigte mehr Paraden (17). Hart aber fing die meisten Flanken ab (vier). Dass er auch fußballerisch was drauf hat, zeigte Hart am Freitag im Nieselregen von Krakau, als er im Training beim Ballhochhalten glänzte.
Auch dank Hart träumt England vom ersten Halbfinal-Einzug bei einem Turnier seit 1996. "Wir sind Gewinner und hergekommen, um Erfolg zu haben - für uns und unser Land", sagt Hart. Die Zeit der Flutschfinger, die England Siege und Titel kosteten, soll endlich vorbei sein. (SID, 23.06.2012)